Anke angelehnt am Baum, erschöpft, aber zufrieden

Meine neue Zeitrechnung – 1300 Tage Leben mit LongCovid

Als Bloggerin lese ich sehr gerne Blogs und bin zufällig auf Annette Penno gestoßen. Sie leitet den Lernraum Lübeck und ist ebenfalls von LongCOVID betroffen. Als ich ihre Artikel gelesen habe, sind mir die Tränen gelaufen. Sie hat mich total berührt. Ihre Worte sind einfach großartig: so poetisch und so zutreffend.
Ihr Artikel „Die Chronik einer Auflösung“ löste Tränen in mir aus, Trauer, Freude, Erleichterung und den Wunsch, ebenfalls meine Geschichte mit LongCOVID zu erzählen.

Liebe Annette, falls du das liest: Hab vielen Dank für deine Inspiration!

Am 27.05.24 kommt meine Geschichte: 1300 Tage aus meinem Leben, 1300 Tage geprägt durch ein kleines Virus.

Definition

Laut ICD-10-GM (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, German Modification) „entsteht“ 4 Wochen nach der Corona-Infektion LongCovid und bei über 12 Wochen anhaltender Symptomatik wird es PostCovid.

In Wirklichkeit sind die Grenzen fließend.

Die Ärztin und Buchautorin Jördis Frommhold („Long Covid – die neue Volkskrankheit“) unterscheidet daher Post- und LongCovid in Bezug auf die vorhergehende akute Coronainfektion. War der akute Verlauf schwer bis lebensbedrohlich und die Beschwerden halten an, bezeichnet sie es als PostCovid. LongCovid entsteht für sie aus einer leichten bis mittelschweren Erkrankung heraus.

Ist es nicht auch egal?

Für mich persönlich begann es vor 1300 Tagen und ich nenne es LongCovid.

Das sind 3 Jahre, 6 Monate, 23 Tage. Oder 42 Monate und 23 Tage.

1300 Tage entsprechen:

  • 112 320 000 Sekunden
  • 1 872 000 Minuten
  • 31 200 Stunden
  • 1300 Tage
  • 185 Wochen und 5 Tage

Vorgeschichte

Ich weiß noch genau, wann es losging. Es war der 5. November 2020, mein Mann hatte Geburtstag. Normalerweise nehmen wir uns an unseren Geburtstagen frei, um auch den Vormittag gemeinsam zu verbringen. Da er an dem Tag trotzdem arbeiten musste und ich eine Klientin hatte, die jede Woche zu mir kam, beschloss ich, eben mit dieser Klientin noch zu arbeiten. Corona war bereits in vollem Gange, es gab Lockdowns und doch waren wir noch nicht so richtig dran gewöhnt.

Es gab mehrere Faktoren, die zusammenspielten:

Ich war damals in einer Praxis eingemietet, die mir nur einen kleinen Raum zur Verfügung stellen konnte. Vor dem Fenster war eine Hauptstraße, sodass ich mich zwischen frischer Luft und verstehen-können entscheiden musste. Außerdem war es November: Ich wollte Heizenergie sparen.

Mitten in der Sitzung hustete meine Klientin einmal ganz kurz, beruhigte mich aber, dass das kein Corona sei, sondern ein ganz normaler Husten, den sie ganz häufig habe.

Wir trugen keine Masken.

Dazu kam, dass ich kurz vorher eine Fortbildung belegte, bei der die Dozentin besonders die Nachteile der Lockdowns und Maßnahmen hervorgehoben hat. Meine Klientin war von dieser Dozentin ein Fan und ich wollte sie mit dem neu Gelernten beeindrucken. Die Lehrerin hatte natürlich mit ihrer Kritik recht. Die Coronazeit war schlimm und anstrengend. Besonders für traumatisierte Menschen. Ich kann auch verstehen, dass das Maskentragen für viele Menschen traumatisierend gewesen sein muss. Ebenso kann ein Maske tragender Mensch ein Trigger sein, wenn jemand z.B. ein Operationstrauma hat. Oder, wie bei meiner Klientin, kann ein Entwicklungstrauma dazu führen, dass Masken im zwischenmenschlichen Kontakt stark verunsichern.

Menschen mit Entwicklungstrauma haben erlebt, dass auf ihre Wünsche und Bedürfnisse nicht eingegangen wurde. Die Eltern haben nicht adäquat reagiert. Depressive Eltern zum Beispiel zeigen so gut wie keine Gesichtsregungen. Das Kind musste sich also von klein auf perfektionieren, im Gesicht der Bezugspersonen, deren Emotionen zu lesen. Es ist angewiesen auf kleinste Anzeichen von Bewegung. Jetzt einer Therapeutin gegenüberzusitzen, deren Gesicht nicht oder kaum lesbar ist, kann schwierig sein.

Ein kleiner Versuch der Erklärung

Ich war damals noch nicht so gefestigt als Therapeutin und ich war der Meinung, dass ich es meiner Klientin auf keinen Fall zumuten kann, mit Maske zu arbeiten. Das „mit Maske arbeiten“ war zu dem Zeitpunkt noch keine Selbstverständlichkeit. (Später habe ich gemerkt, dass es sehr wohl möglich ist, mit Maske zu arbeiten. Viele Klient*innen waren sogar dankbar für die Maske: Ich signalisierte ihnen dadurch Verantwortung für meine und ihre Gesundheit.)

Okay. Das war also die Ausgangssituation.

Mein Verlauf

Ich arbeitete also die 1 Stunde mit meiner Klientin, sie hustete, ich saß ihr gegenüber, der Raum war klein, und genau fünf Tage später schaffte ich es nicht mehr, die Treppe zu meinem Schlafzimmer nach oben zu gehen, ohne mich zwischendurch auf den Stufen auszuruhen.

Ich wunderte mich, denn diese starke Erschöpfung kannte ich gar nicht. Ich bekam auch leichte Anzeichen von Schnupfen und hustete auch ab und an, spürte aber nichts von einer Erkältung. Es fühlte sich einfach so komplett anders an, als jede Krankheit, die ich jemals hatte! Sollte das diese unbekannte große neue Krankheit namens Corona sein? Ich wollte unbedingt einen Test machen! Die Ärztin bei uns an der Ecke war Vorreiterin in Sachen Testung und Behandlung von Corona Patienten. Also reihte ich mich morgens 7:00 Uhr in der Schlange ein und wartete 30 Minuten trotz Kälte auf meine Testung.

Es war ein PCR-Test (meine Klientin hatte mir bereits mitgeteilt, dass sie positiv ist, ich war also Kontaktperson), und das Ergebnis kam online nach 24 Stunden. Ich weiß noch, wie es war. Immer wieder schaute ich nach: noch kein Ergebnis. Und dann war es so weit. Da stand: Positiv. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Ich spürte wirklich den Schlag in die Magengrube.

Die Ärztin verschreibt mir sofort ein Antibiotikum, Cortison sowie Blutverdünner, um eine Thrombose zu verhindern. Bis heute weiß ich nicht, ob diese Behandlung Schlimmeres verhindert hat oder ob sie vielleicht sogar mein Long COVID gefördert hat. Mein Mikrobiom wurde dadurch sicher in Mitleidenschaft gezogen – wenn es nicht schon vorher kaputt war. Trotzdem war ich sehr dankbar für die Behandlung – auch wenn meine Hausärztin angesichts der prophylaktischen Medikation nicht begeistert war. Mir gab es ein Gefühl, nicht ausgeliefert zu sein, sondern etwas zu tun.

Alles in allem war ich sehr froh, dass die Krankheit so geringfügig Auswirkung hatte. Ich staunte, denn ich kannte viel heftigere Symptome. Ich hatte in meinem Leben bereits eine echte Grippe und auch eine Lungenentzündung. Corona schien mir im positiven Sinne nicht vergleichbar. Trotzdem hatte ich Angst. Eines Nachts musste ich husten und hatte das Gefühl, zu ersticken. Ich bin aufgesprungen und habe das Fenster geöffnet. Ich hatte Panik. Es fühlte sich an, als ob ich keine Luft mehr bekommen könnte. Das war der schlimmste Moment, und glücklicherweise war er nur einmalig.

Ansonsten war ich einfach nur erschöpft. Ich lag auf dem Sofa. Ich zählte die Tage. Ich lag rum wie ein Stück Deko. Meine Tochter malte eine Tabelle für mich, in der ich meine Medikation abhaken konnte. Das war meine Tagesaufgabe und sie reichte mir völlig. Meine Tochter assistierte mir, wenn ich mir die Thrombosespritze gab. 

Teilweise war ich so erschöpft, dass ich jemanden bitten musste, mir die Teetasse zu reichen, die vor mir auf dem Tisch stand. Ich schaffte es nicht, mich aufzurichten und mir selber die Tasse zu nehmen. Ich war angewiesen auf die Hilfe meiner Familie. Und glücklicherweise hatte ich Familie!

Der Nebel im Gehirn

Brainfog ist ein Wort, welches ich das erste Mal im Zusammenhang mit Corona gehört habe. Es ist so eine Art Blackout, mit dem Unterschied, dass der Nebel nicht ganz so „Black“ ist und auch nicht so plötzlich kommt wie ein Blackout. Es sind eher mehrere Graustufen, welche dauerhaft vorhanden sind und sich in ihren Tönungen immer wieder ineinander verschieben. Mal ist es mehr grau, mal weniger grau. Ich finde, Brainfog ist ein sehr passendes Wort, denn er fühlt sich an wie dicke, graue Wolken.

So eine Wolke kann ziemlich plötzlich über einen herfallen. Man denkt, man könne noch etwas erkennen, dem ist aber nicht so. Die denkenden Zellen verkriechen sich längst auf die Matte und machen Pause.

Da legte ich z.B. den Käse in den Brotkorb oder die Butter in die Mikrowelle statt in den Kühlschrank (puh – rechtzeitig gemerkt!)

Oder die Wortfindungsstörungen:

Wie heißt nochmal das rote Zeug in der Tube? Ach ja, Tomatenmark.

Oder: 

Ich stehe am Herd und koche (Juhuu – ich kann stehen UND dabei kochen!) und möchte meinen Lieben mitteilen, dass die Spaghetti noch nicht ganz gar sind. 

  • Was ich sage, ist: „Die Spaghetti sind heiß“. 
  • 🤔 Ich denke „nein, das war das falsche Wort“ und versuche es mit dem Gegenteil „die Spaghetti sind kalt“. 
  • Nein, das wollte ich auch nicht sagen. 🙄 Wie heißt das nochmal? Das Wort mit dem „H“ war doch schon nicht schlecht, irgendwas passte daran … 
  • Ja genau😃: „Die Spaghetti sind noch hart“. (Auch wenn die Spaghetti in der Zwischenzeit nun doch weich waren …)

Das Mysterium Crash

Ein Crash kommt meistens mit Verzögerung nach einer zu großen Anstrengung oder einer Stresssituation. Ein Crash kann Tage oder Wochen andauern. Man kann sich nicht bewegen, liegt einfach nur herum und wartet darauf, dass es besser wird. Jeder visuelle oder akustische Reiz ist einer zu viel.

Manchmal geht ein Crash auch nur ein paar Minuten. Diese Minicrashs kommen ziemlich häufig vor. Ich mache etwas und ganz plötzlich gibt mir mein Körper aus verschiedenen Bereichen das Signal: Sofort aufhören! Meine Beine tun dann weh, mein Kopf kann nicht mehr denken, alles zieht nach unten zum Boden. Es kann sein, dass ich mich da, wo ich bin, einfach hinlegen muss. Im Sommer habe ich Glück: da findet sich immer eine Parkbank oder Wiese. Im Winter wird es schwieriger, daher mag ich im Winter auch keine langen Ausflüge machen. 
Inzwischen bin ich so gut trainiert mit meinen Atem- und Regulationsübungen, sodass ich im Liegen in die Weite meines Brustkorbes einatme und so lange und so sanft wie möglich ausatme. Bestenfalls auf „Wuuuuuuu“. Das ist eine Technik, die ich in einem Seminar bei Peter Levine gelernt habe. Er empfiehlt sie bei chronischer Erschöpfung.

Wenn es mir nicht möglich ist, zu liegen oder zu tönen, weil ich zum Beispiel in der S-Bahn sitze, dann mache ich diese Atemübung leise. Es hilft mir ebenfalls, den Untergrund zu spüren. Egal ob ich sitze oder liege, spüre ich genau nach wie ich Kontakt zum Boden habe und wie sich das anfühlt. Das bringt Ruhe in mein System. Da ich diese Übungen regelmäßig mache und inzwischen sehr auf meine Grenzen achte, reichen mir manchmal 5-10 Minuten und ich kann wieder aufstehen und wieder am Leben teilnehmen.

Solange es bei diesen Mini Crashs bleibt, geht es. Ich habe für mich gemerkt, dass es sehr wichtig ist, dass ich genau diese Crashs beachte und dann auch wirklich eine Pause mache. Am hilfreichsten ist es, wenn ich täglich meine Pausen mache, egal wie viel Energie mir gerade zur Verfügung steht. Aus diesem Grund habe ich in meinen Kalender täglich zwei feste Liegepausen eingetragen. Wenn ich dann mal doch den ganzen Tag unterwegs bin und nicht liegen kann, dann kann ich das ganz gut kompensieren. Oder ich mache dort, wo ich gerade unterwegs bin, wenigstens eine Sitzpause zum Abschalten und Ausruhen.

Übergehe ich diese kleinen Crashes mit meinem alten Glaubenssatz “das schaffe ich schon noch“, dann kann ich ziemlich sicher sein, dass ein großer Crash in Kürze folgen wird, den ich dann nicht so einfach Wegatmen kann.

Schwierig und frustrierend sind für mich die permanenten Entscheidungen über Dinge, die ich noch nicht einschätzen kann: „Wenn ich heute zum Gitarrenunterricht gehe – werde ich dann morgen arbeiten können?“

Das war ein Beispiel für eine Luxus-Entscheidung. Alltäglich waren und sind die Entscheidungen wie „wenn ich jetzt mit meiner Freundin telefoniere – wird meine Kraft dann noch reichen, um mit meinen Kindern Karten zu spielen?“

Am schlimmsten ist es, wenn die Lage so aussieht: „Ich habe Hunger. – Habe ich die Kraft, in die Küche zu gehen und mir etwas zu essen zu holen oder spare ich Energie, bleibe ich lieber liegen und behalte meinen Hunger?“

Der Versuch eines normalen Lebens

Ich bin so gestrickt, dass ich alles machen möchte, was mich interessiert. Und mich interessiert vieles! Ich habe so viele Ideen und Wünsche und wenn jemand anfragt, kann ich nur schwer Nein sagen. Ich hatte mich doch gerade erst selbstständig gemacht als Therapeutin und brauchte mein Einkommen. Und da kamen Klienten und natürlich wollte ich mit ihnen arbeiten! Also nahm ich an und arbeitete. Glücklicherweise war ich noch nicht so etabliert, sodass ich manchmal nur 2-3 Termine pro Woche hatte. Trotzdem strengten sie mich an.

Nach einigen Wochen ging es mir ein wenig besser und ich machte sofort einen riesengroßen Fehler: Ich gab einen Online-Workshop, der schon sehr lange geplant war. Wie ich das damals geschafft habe, ist mir selbst nicht mehr klar. Ich machte auch mein SE-Modul im Dezember mit. Glücklicherweise war es ebenfalls online, sodass ich alle 2 h die Kamera ausschaltete und mich hinlegte. Im Nachhinein glaube ich, dass es mir möglich war, daran teilzunehmen, weil ich meine Grenzen einfach noch nicht kannte. Und weil ich aus der akuten Erkrankung heraus kam, aber noch nicht in Long COVID drin gewesen bin. Aber das ist jetzt nur eine Vermutung.

In den ersten sechs Monaten dachte ich noch, dass ich mich einfach noch erholen müsse, dass ich noch in der Regenerationsphase sei und Schritt für Schritt wieder gesund werde. So wie man eben aus jeder gewöhnlichen Erkrankung wieder genesen kann.

So langsam dämmerte es mir jedoch, dass es wohl keine gewöhnliche Erkrankung ist, die ich da habe. Das Wort LongCovid war bereits zu lesen, ebenfalls die verheißungsvolle Nachricht, dass eine Impfung Linderung der Symptomatik verschaffen könnte. Ich setzte alles daran, um eine Impfung zu bekommen und tatsächlich schien sich mit der Impfung mein Immunsystem erneut zu wehren und diesmal erfolgreicher zu sein. Es ging mir besser! Der Sommer kam, die Wärme, die Sonne und mit ihm die Ferien.

Die Ferien verbrachten wir zum 3. Mal auf Pellworm. Auch diesmal liehen wir uns Fahrräder für die gesamte Zeit. Ich merkte schnell, dass ich doch nicht so gesund bin, wie ich dachte. Ich kam nicht voran mit dem Fahrrad! Als ich für mich geklärt hatte, dass ich mir nichts beweisen musste, tausche ich mein geliebtes Hollandrad gegen ein E-Bike und konnte den Urlaub wieder genießen.

Auch heute, drei Jahre später, fahre ich überwiegend mit dem E-Bike. Ich mag mich bewegen, ohne mich zu überlasten.

Ausfälle

Die Wochen und Monate gingen ins Land und immer wieder hatte ich Phasen, in denen es mir besser ging und ich das Gefühl hatte, fast normal zu leben.

Sobald ich aber anfing, in mein normales Leben zurückzugehen, kam der Crash. Meistens mit Verzögerung. Manchmal habe ich schon 24 Stunden später gemerkt, dass ich mich übernommen hatte; manchmal zögerte es sich aber auch eine Woche oder zwei hinaus. Je länger ich versuchte, durchzuhalten und dadurch den Crash hinauszögerte, desto schwerer wurde er auch. 2021 versuchte ich z.B., wieder in mein normales Leben zurückzukehren. 
Im Herbst summierten sich meine Belastungen: viel Arbeit, die Geburtstage meiner Kinder, aufkommende Kälte und viele Emotionen: Die erste Liebe meines Lebens lag im Krankenhaus und starb. 
Ich war mehrmals dort und traf Menschen aus meinem alten Leben, die ich 25 Jahre nicht gesehen hatte. Alte Emotionen kamen hoch, Gespräche wurden geführt, Erinnerungen ausgetauscht. Ich arbeitete viele Verletzungen aus dieser Beziehung auf und setzte mich mit meiner Vergangenheit auseinander. Es war eine sehr wertvolle und versöhnliche Zeit für mich und trotzdem war sie enorm anstrengend. Kurz darauf war Advent, dann Weihnachten und im Januar lag ich einfach nur flach. Ich hatte einen Riesencrash, der mehrere Wochen dauert.

Glücklicherweise stand ein Reha-Aufenthalt in meinem Kalender – endlich war es so weit: Das Gesundheitssystem wollte etwas für mich tun, ich würde endlich gesund werden, weil Profis sich um mich kümmern werden. Das würde sicher toll werden!

Reha: Segen oder Fluch?

Im April 2022 machte ich mich auf den Weg zur Reha. Ich war sehr optimistisch und naiv. Dort angekommen habe ich sofort gemerkt, was mich alles überfordert:

  • Es waren viel zu viele Menschen dort (ca. 200 Patient*innen)
  • Täglich kamen neue Menschen an und andere verschwanden wieder.
  • Im Essensraum war es laut, die Stühle scharrten auf dem Boden, dass es weh tat.
  • Der Weg von meinem Zimmer bis zum Essensraum betrug 200 m! Das Ganze dreimal am Tag: Meine Möglichkeiten für Sport waren verbraucht.
  • Mein Plan war voll. Die Klinik wollte mich in Bewegung bringen. Sie hatten keine Ahnung von einer Behandlung von Long COVID.
  • Um die Therapien zu bekommen, die ich brauchte, musste ich fast täglich kämpfen.
  • Ich fühlte mich nicht gesehen, nicht ernst genommen und eine Gruppe für LongCovidler, mit der ich mich hätte austauschen können, gab es auch nicht.

In der Reha wurde mir bewusst, wie sehr ich Orientierung, Ruhe und gewohnte Gesichter brauche. Ich war heilfroh, als ich diesen Ort wieder verlassen konnte! Die Reha hatte meine Genesung wieder um einige Wochen verzögert und mich zurückgeworfen.

Ich merkte das ganz eindrücklich an meiner körperlichen Leistungsfähigkeit: am Anfang der Reha konnte ich mit einem klapperigen Fahrrad 2 km bis zum nächsten Ort radeln. Am Ende der Reha drehte ich bereits nach 500 m um, weil ich mir den Rückweg nicht mehr zugetraut hätte.

Ich heulte und war verzweifelt. Sollte ich abreisen? Ich entschied mich, dabei zu bleiben, weil ich nicht in den Alltagstrott mit Schulkindern zurück wollte. Außerdem erhoffte ich mir täglich, doch noch meine Physio- oder Atemtherapie zu bekommen.

Es war nicht alles schlecht an der Reha, ich habe trotz allem für mich einige Sachen mitnehmen können. Doch ich habe teuer bezahlt! Die Währung war meine Energie und von der hatte ich nicht viel. Am Schluss war ich so fertig, dass mein Mann mich abholen musste – glücklicherweise war ich nur 60 km von zu Hause entfernt.

Dafür bin ich der Klinik trotz allem dankbar:

  • Eine Optikerin hat festgestellt, dass ich ein (geringes) Prisma brauche. Ich bekam neue Brillen und erfuhr plötzlich, was scharfes Sehen bedeutet! Mein Gehirn durfte sich daraufhin wieder etwas entspannen – ein Riesengewinn!
  • Ich erfuhr von der Psychologin, dass Multitasking nicht normal ist und zu Überlastungen führt. Das hat mich erleichtert zu hören. 
  • Über einen Test fand ich heraus, dass soziale Kontakte und körperliche Bewegung mich am meisten anstrengen. Das war mir so nicht klar.
  • Ich traf auf eine Qi Gong Lehrerin, die mir den wundervollen Satz gab „Gehen um des Gehen willens“.
  • Als nervige Patientin bekam ich vom Chefarzt im Nebensatz einen wichtigen Tipp: Kältereize unterstützen die Mitochondrien (die Kraftwerke in den Zellen). Seitdem dusche ich jeden Tag kalt und ich schwöre darauf!
  • Eine Mit-Patientin gab mir das Buch LongCovid – Die neue Volkskrankheit“ von Jördis Frommhold
    Als ich las, dass es voraussichtlich keine Heilung geben würde, weinte ich. Das wollte ich nicht lesen!
    Die wichtigste Essenz aus diesem Buch war für mich, dass ich täglich Pausen bewusst machen muss. Auch wenn es mir gut gehe und ich denke, dass ich heute mal keine Pause bräuchte, solle ich sie machen. 
    Dr. Frommhold hat leider damit recht. Seit ich mich an diese Regel halte (2x täglich hinlegen und pausieren, z.B.mit einer Atemübung) geht es mir stetig besser und kann ich viel mehr leisten als vorher. Meine Crashs werden seltener und kleiner, die Kurve flacht ab. Genauso, wie sie es im Buch beschrieben hat.

Auf und Abs

Den Sommer 2022 über erholte ich mich von meiner Reha. Wir waren drei Wochen in Finnland und meine Symptome waren fast ganz weg. Ich war entspannt, ich schwamm fast täglich im See, war ständig in der Sauna, konnte mit einem ganz normalen Hollandrad fahren und stundenlang durch Helsinki laufen. 

Wieder rückte ein fast normales Leben in greifbare Nähe – da bekam ich ein zweites Mal Corona (23.11.2022, ich traf mich mit einer Freundin zum Roses Day). Zum zweiten Mal lag ich in meiner geliebten Advents- und Weihnachtszeit flach. 2023 würde wieder anstrengend werden, denn ein Praxisumzug stand mir bevor.

Weihnachten, der Umzug, viel Orga, viel zu tun, der nächste Crash stand vor der Tür. Es folgte wieder ein Jahr, in dem ich mich über Frühling und Sommer hinweg an Kraft gewonnen habe und welches Anfang Dezember mit einer dritten Coronainfektion endete. Och neeeeee!!!!!! Auch diesmal wusste ich, woher: Sohn und Mann waren vor mir dran. (lies auch: Mein Jahresrückblick 2023 „Zurück zur Balance)

Es folgte Ende 2023 das gleiche Spiel zum dritten Mal: Advent und Weihnachten fielen so ziemlich aus. Immerhin lief alles andere super: Kein Umzug, dafür Klient*innen mit viel Verständnis für meine Situation.

Und heute?

Als ich vor genau zwei Jahren bei der Reha war, lernte ich eine junge Frau kennen, die damals bereits zwei Jahre Long COVID hatte. Die Zahl schockierte mich, ich war ja „erst“ seit anderthalb Jahren krank. Nun lebe ich schon 1300 Tage mit Lohn COVID. Das sind dreieinhalb Jahre. Auf ein halbes Jahr mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an. Ich habe mich daran gewöhnt. Ich lebe damit. Ich versuche zu arbeiten, ich versuche eine anwesende Mutter zu sein. Und ich versuche für mich da zu sein. Tragischerweise gelingt mir gerade das Letztere am wenigsten. Es ist etwas, was ich als Kind nicht gelernt habe und was ich mir jetzt trotz oder wegen Corona mühsam beibringe: Für mich sorgen. Ich möchte es meinen Kindern beibringen und meinen Klientinnen und als Allererstes will ich es für mich lernen.

Ich habe einen Zoom-Kurs ins Leben gerufen, in dem ich Übungen anleite zum Stressabbau durch Regulierung des Nervensystems. Durch die Übungen wird das innere Stresslevel (Sympathikus) abgebaut: Die sympathikone Energie, die unter der Erschöpfung (dorsaler Shutdown) liegt. 
Anfangs wollte ich den Kurs für erschöpfte Mütter anbieten, nun waren fast 20 Menschen mit Longcovid dabei und ich richte mich inzwischen auch genau an diese Gruppe. Wir brauchen das einfach!

Heute schreibe ich an diesem Artikel, der am 27.05.24 veröffentlicht wird. Ich hatte mir eine Auszeit von drei Tagen von meiner Praxis und meiner Familie genommen, um hier in der Einsamkeit der Uckermark ein bisschen Ruhe zu haben, in den nahe gelegenen See hüpfen zu können und digital zu arbeiten. Natürlich hatte ich wieder viel zu viele Ideen im Gepäck, die ich nur zur Hälfte angerissen habe.

Hätte ich einfach nur drei Tage Urlaub machen sollen? Vielleicht. Für mich hat sich eigentlich alles richtig angefühlt. Ich hatte Pausen, ich habe immer wieder Atem- und Regulationsübungen gemacht, ich habe gelesen, ich habe einfach nur den Himmel angeschaut, ich war spazieren und habe gut gegessen.

Und ja, ich habe auch gearbeitet: Ich habe ein paar Videos am See gedreht sowie meine beiden Artikel über Rechtfertigungen beendet (Wie du mit Rechtfertigungen deine Beziehung sabotierst und wie du da wieder rauskommst).

Und ich habe meinen ganz persönlichen Artikel über LongCovid begonnen.

Aus irgendeinem Grund dreht mein Nervensystem heute trotzdem am Rad. Ich habe letzte Nacht z.B. nur dreieinhalb Stunden geschlafen, weil mein Puls immer wieder hochging. Warum das so ist, weiß ich auch nicht. Ich nehme es an, wie es ist und schaue, was der Tag mir bringt.

Meine Smartwatch möchte, dass ich heute auf mich achte: Ay Ay Sir – wird gemacht! 🫡

Bis zum nächsten Mal – schreib mir gern einen Kommentar!

Deine

Anke
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3 Kommentare zu „Meine neue Zeitrechnung – 1300 Tage Leben mit LongCovid“

  1. Vielen Dank, Anke, für deinen offenen Umgang mit der Erkrankung. Es ist jetzt das dritte Mal, dass ich über Long COVID lese und jeder Bericht berührt mich.

    Ich halte es für sehr wichtig, das darüber geschrieben wird, denn ich denke, Außenstehende können überhaupt nicht nachvollziehen, wie es Betroffenen geht. Selbst die Schilderungen in den Berichten (dein Beispiel mit der Teetasse vor dir auf dem Tisch) sind so schwer vorstellbar. Umso wichtiger, dass offen damit umgegangen wird und so ein Verständnis und eine Akzeptanz für die Erkrankung geschaffen wird. Danke!

    1. Liebe Anette,
      vielen Dank, dass du schreibst, es ist so wertvoll für mich, ein Feedback zu bekommen! Danke!

      Ich bin auch froh, dass ich endlich diesen Schritt gehe! Ja, es braucht mehr Akzeptanz und Verstehen. Die Krankheit ist halt für die meisten Menschen unsichtbar.

      Liebe Grüße, Anke

  2. Pingback: Meine To-want-Liste für das 4. Quartal 2024 - Anke Stadelbauer

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